Auf der Grenze - On the Borderline

mein kleiner Bruder und ich
Oft frage ich mich, warum es so gekommen ist. Warum das jetzt so ist. Was man hätte verhindern können. Aber ich verstehe es immer noch nicht. Geboren wurde ich Schwerin, wo ich aber nur fünf Jahre verbrachte, bis wir nach Rostock zogen. Nach meinem Wissen (habe kaum eigene Erinnerungen) hatte ich eine schöne Kindheit, dennoch muss ja auf dem Weg hierher irgendetwas schief gelaufen sein. Jemanden die Schuld zu geben, wäre nicht fair. Mein Vater war Soldat der Marine und ich hatte immer Angst, wenn er die Tür hinter sich schloss, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Mein Bruder war viel krank, Mum kam kaum hinterher (sie war ja prinzipiell alleinerziehend) und ich stand dann halt hinten an. Bis zur zweiten Klasse war alles gut. Ich hatte Freunde, liebte meine Eigenständigkeit und hängte viel draußen rum. Doch dann zogen wir um (wir waren erst ein oder zwei Jahre zuvor in die Stadt gezogen), meine Eltern wollten unbedingt ein Haus. Ein neues Mädchen war ich also nun. Die anderen Schüler kannten sich seit der Krippe. Sie waren Teams, diese Bande waren entstanden bevor ich überhaupt die CHANCE hatte, etwas zu tun. Ich war von jetzt an alleine, ging alleine raus oder auch gar nicht mehr. Meine besten Freunde waren meine Bücher. Das blieb bis zur sechsten Klasse so. Zwei elendige Jahre auf der Gesamtschule, durchzogen von Intrigen, Hass und Mobbing. (Oh, wie habe ich diese Zeit gehasst. Es war ganz interessant zu erfahren, dass ich in ein Schließfach hineinpasse!)

Mein Vater war nun Pendler und nur am Wochenende zuhause. Innerhalb der Woche musste Mum auch arbeiten, sodass ich auf meinen kleinen Bruder aufpassen musste. Das hätte mir ja prinzipiell nichts ausgemacht, aber er war ein aggressiver, machthungriger kleiner Junge, den man nicht in die Schranken weisen konnte. Man muss dazu sagen, dass er auch lieb sein konnte und diese Augenblicke habe ich schon immer genossen.
Mum war schon IMMER schlank, dünn. Mein Vater dagegen immer ziemlich dick. Als ich in die achte Klasse kam, war ich mit einem Mädchen zusammen, mein Vater wegen Depressionen irgendwo auf Kur in Süddeutschland und meine Mum am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Mein Vater wurde aufbrausend und schrie viel (geschlagen hat er mich nur einmal, ansonsten nur Geschrei und verbale Gewalt). Er war unzufrieden mit sich und der Welt. Später erfuhr ich dann auch, warum. Er hatte eine Affäre irgendwo bei Bremen. Diese Frau war schwanger und hatte das Kind abgetrieben. Das zerstörte meinen Vater. Er schien, nicht mehr lieben zu können. Zu dieser Zeit kam heraus, dass ich eine Matheschwäche hatte. Trotzdem bekam ich in der Matheklassenarbeit eine 2. Stolz wie Bolle ging ich zu meinen Eltern auf der Suche nach Anerkennung - mein Vater fragte nur, warum es keine Eins war. Also fing ich an, alles zu verschweigen, auch, dass ich in der Schule schon wieder Probleme mit den anderen Kindern bekam.
Ich habe ab da für meine eigenen Probleme selbstständig nach Lösungen gesucht. Ich durfte eigentlich so ziemlich ALLES machen, was ich wollte, ich wurde ja weitesgehend ignoriert - hauptsache die Noten stimmten. Aber dann kam Ana und alles wurde noch komplizierter (ein halbes Jahr zuvor hatte ich mit dem Ritzen angefangen).
Ich weiß noch, dass mein Vater damals eine Diät gemacht hatte und knapp 20kg abgenommen hatte. Er änderte die Ernährung bei uns zuhause, sodass es nur noch Trennkost und Salat und sowas gab. War ganz gut so, da mein Bruder (damals neun) langsam dicker wurde. Ich allerdings auch. Durch die andere Ernährung verlor ich ein paar Kilos. Aber zufrieden war ich nicht. Innerlich änderte ich noch ein paar Dinge - nur noch Cola light, ich fing an Kaffee zu trinken und zu rauchen, gewöhnte mich an grünen Tee, strich Chips, Schokolade, Brötchen und Fleisch aus meinen Tellern. Zuerst fiel es niemandem auf, da ich früher als Kind sehr, sehr dünn war. Ich war krank gewesen, kam ins Krankenhaus und wurde operiert. Durch die Medikamente (die ich bis ich zwölf war nahm) war ich aufgequollen und fühlte mich unwohl. Daher fiel es nicht auf, dass ich ein klein wenig abnahm. Auch, dass ich Vegetarier wurde, störte vorerst keinen. Doch irgendwann wurde es schwierig.

Wenige Jahre zuvor hatte ich meine besten Freunde kennengelernt. Meine beste Freundin traf ich irgendwann auf der Straße im Urlaub in meiner Heimatstadt - sie hatte sich verlaufen. Es dauerte nicht lange bis wir beste Freundinnen wurden und das obwohl sie aus Berlin kam und drei Jahre älter war als ich. Durch sie lernte ich meinen besten Freund kennen, in den ich auch lange Zeit verliebt war. Zwischen uns war alles gut. Leider verlor sich der Kontakt zu meiner besten Freundin als sie in eine stationäre Therapie musste (ich wusste weder Telefonnummer noch Adresse). Ein halbes Jahr später, August 2011, nahm sie sich das Leben. Ich weiß bis heute nicht, warum, aber ich kann es mir so ungefähr denken. Schließlich war ich Leben weitaus beschissener als meines. Ich hatte ihr Monate zuvor geschworen, dass ich im Falle ihres Todes nicht hinterkommen würde. Also vertiefte ich mich in andere Sachen - Geige spielen, Sport, Abnehmen - und verdrängte sie eine lange Zeit. Das mit dem Abnehmen wurde zur Besessenheit und eine willkommene Ablenkung.
Ende neunten/anfang der zehnten Klasse sagte ich meinen Eltern, dass ich durch irgendwelche Fehlfunktionen im Körper nur fettfreie Sachen abkonnte. Das glaubten sie mir nicht. Ich ging zum Arzt und versuchte herauszufinden, ob ich überhaupt IRGENDETWAS nicht abkonnte. Ja, Pfefferminztee und ähnliches, Laktose und von Fleisch bekam ich Magenkrämpfe. Doch meine Mum machte mir einen Strich durch diese Rechnung. Sie zeigte mir Bilder von abgemagerten Menschen und fragte mich, ob ich so aussehen wolle. "Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?", war meine Antwort. Gelogen. Innerlich spornten mich diese Bilder nur an. Ich kämpfte weiter. Auch über die Sommerferien, die ich bei meinen Großeltern verbrachte.
Dann, im September 2011, flog ich für neun Wochen nach Frankreich zum Schüleraustausch. Ich wog 40kg und wollte, dass das zumindest so bleibt. Blieb es nicht. Mir wurde gedroht, mich aus dem Programm zu kicken, wenn ich mein Essverhalten nicht änderte. Es fiel mir schwer, aber es ging. Um keinen Preis wollte ich aus Frankreich weg. Ich nahm knapp acht Kilo zu und heulte auf dem Weg zurück. Wäre ich dort geblieben, wäre Ana vielleicht für immer verschwunden.

Ich kam also Ende November zurück und es wurde schlimmer denn je. Ich fing an zu kotzen und Abführmittel zu schlucken und verlor bis Weihnachten vier Kilo. Ich musste wieder Fleisch essen und von der vielen Milch und Schokolade war mir wochenlang übel. Mittlerweile war ich depressiv geworden, stieß jeden von mir, fühlte mich innerlich leer und gleichzeitig wie ein geladener Revolver und hing nur noch am Laptop oder in der Schwimmhalle rum. Freunde hatte ich kaum und die, die ich hatte sahen wie folgt aus:
- eine übergewichtige Zockerin, die sich ritzte, aber ihren Freund liebte
- ein sehr, sehr großes Mädchen, das Kampfsport machte und immer gute Noten schrieb
- ein kleines Gothic-Kind, das nie viel redete
- ein seltsamen Mädchen, das sich wegen Aufmerksamkeit ritzte und jedem ihre Probleme ausbreitete und sie als am wichtigsten empfand
- meine beste Freundin, die mir dauernd Vorwürfe machte, ich würde nicht auf die anderen achten, wo ich doch nur eben dies tat
Das mit den Depressionen wurde von Tag zu Tag schlimmer. Meinen sechzehnten Geburtstag feierte ich zwar groß, aber wie einen Kindergeburtstag, es war ein Abschied an meine Kindheit. Ich wurde kalt, herzlos und innerlich noch leerer als zuvor. Ich schwor mir, meinen siebzehnten Geburtstag nicht zu überleben. Ich tat es dennoch.

Mitte 2013 war ich wieder bei 41-42kg und brach die Schule ab (Konzentrationsprobleme, Ängste, Suizidgedanken und reine Überforderung). Der Bumerang, der den Schmerz und den Verlust meiner besten Freundin beinhaltete, kam mit Karacho zurück. Ich blieb nur noch zuhause, hatte Suizidgedanken und vermisste meine Seelenverwandte wie verrückt. Ich weinte bei jeder Kleinigkeit oder fuhr aus der Haut. Wieder nahm ich fünf Kilo zu, die ich aber auch schnell wieder verlor. Ich wurde in eine Klinik eingewiesen. Dreizehn Wochen. Ich war am Ende. Und Ana war nicht gerade unschuldig, aber sie war es nicht allein. Während meiner Therapiezeit ließen meine Eltern sich endgültig (nach vier Jahren voller Streit und Geschrei) scheiden. Das Haus wurde verkauft. Obwohl ich mich in meiner sich streitenden Familie nie wohlgefühlt habe, rief diese Art der endgültigen Veränderung eine Art Schockzustand hervor. Ich tat nichts mehr. Ich lag nur noch in meinem Klinikbett, redete und aß nicht. Drei Tage lang. Danach nahm ich meine Therapie wieder in die Hand. Ich erwischte mich, wie ich nachts durch die Gänge lief und nicht schlafen konnte. In solchen Nächten (ich war sehr wohl müde, hatte allerdings Angst vor meinen Träumen) suchte ich den Klinikkater Tiger und saß auf dem Flur neben ihm bis ich zu müde war, um wach zu bleiben. Hin und wieder schlief ich gar nicht. Nach endlosen Gesprächen und Tests bekam ich - endlich? - eine Antwort auf die Frage, was mich so quält und warum alles so kompliziert war. Meine Diagnose war Borderline. Meinen Eltern sagte ich, das seien Depressionen und Essstörung (mehr mussten sie nicht wissen.
 Nach dem stationären Aufenthalt kam ich noch in eine Tagesklinik, wo ich auch meinen achtzehnten Geburtstag verbrachte. Das war vor zwei Jahren.

Nach meiner langen Genesungszeit jobbte ich kurz in einem Restaurant und begann eine Ausbildung zur Mediengestalterin, wo ich endlich Freunde fand, die mich so akzeptierten, wie ich war. Leider musste ich die Schule aus finanziellen Gründen nach nur einem Jahr verlassen, was mich ein wenig aus der Bahn warf, aber nicht zu sehr.
Im Dezember 2015 entschied ich, etwas zu tun, was mein Leben von Grund auf änderte - ich akzeptierte die Möglichkeit, das meine gescheiterten Beziehungen nicht gänzlich an meiner Psyche lagen, sondern daran, dass ich eventuell das falsche Geschlecht an meiner Seite hatte. Ich trennte mich von meinem damaligen Freund, ritze mich ein letztes Mal und ... BUMM, das ganze Leben wurde heller. Ich outete mich vorerst nur bei meiner Mutter und wenigen Freunden, doch nur zwei Monate später lernte ich meine jetzige Freundin kennen. Im April 2015 kamen wir zusammen - und blieben es bis heute :) Sie ist vielleicht die Liebe meines Lebens, bringt viel Verständnis für meine Vergangenheit auf und fragt nichts über die Dinge, die ich nicht sagen will. Es war die erste richtige Entscheidung, eine Frau in mein Leben zu lassen. Ich bin über zwei Jahre ohne das Ritzen ausgekommen, habe mich seither nur einmal so richtig besoffen und habe im August 2016 eine neue Ausbildung zur Floristin begonnen. Eigentlich könnte mein Leben nicht besser laufen.


Doch heute ist Ana immer noch nicht ganz weg. Sie ist da, immer. Ich spüre sie in meinem Nacken sitzen wie eine lästige Fliege. Ich versuche, sie zu ignorieren, doch an manchen Tagen will es mir nicht gelingen. Ich habe mich damit abgefunden und denke, dass sie irgendwann von alleine geht. Ich habe eine Freundin, die ich sehr liebe und trinke weiterhin viel Kaffee. Ich blicke positiver in meine Zukunft, habe dennoch vor vielen Dingen Angst, dagegen habe ich jetzt Tabletten. Manchmal erschrecke ich zu heftig, aber das ist okay. Ich nehme ab und wieder zu, mal bin ich normal, mal zu dünn und auch das ist okay. Ich weiß jetzt relativ mit meinem Ängsten umzugehen (außerdem habe ich drei Katzen, die mich beschützen :D ). Was mir nur Angst macht, und zwar so RICHTIG ANGST, ist, dass das alles, was ich hinter mir gelassen habe, irgendwann zurückkommt. Dass Anas Stimme lauter wird, dass ich wieder in die Selbstzerstörung abstürze, dass meine Freundin mich verlässt... Diese Ängste werden nie verschwinden. Aber auch das ist okay.

xoxo Nessie

2 Kommentare:

  1. deine geschichte ist irgendwie berührend und erschreckend.
    ich liebe es geschichten von anderen menschen zu lesen, weil ich dann mal wieder sehe wie gut ich es habe.
    dass du deine beste freundin durch suizid verloren hast, tut mir unendlich leid. ich hätte meine beste freundin 3x fast deswegen verloren, ich will nicht daran denken, was passiert wäre wenn...
    ich finde es mutig und kraftvoll, wie du trotzdem dein leben meisterst. die diagnose borderline ist ja auch keine einfache diagnose.
    ich schicke dir eine packung kraft und eine umarmung, wenn du magst.

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    1. Oh ja, eine Umarmung klingt fantastisch :) Bekommst du natürlich auch. Selbst eine Freundin fast zu verlieren, löst etwas in dir aus ... du bist genauso stark ♥

      xoxo Nessie

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